Beethoven beats Beklommenheit

Blick von unten auf die Hamburger Elbphilharmonie

#BlueMonday: Beethoven beats Beklommenheit

Wenn der Bass-Bariton einsetzt, kommt automatisch die Gänsehaut: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.“ Einige haben es bereits erkannt – es ist der Vorspann zur „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Symphonie, die wohl jeden emotional aufwühlt. Gerade in dieser Corona-Zeit. Wochen, Tage, Stunden, die mit so viel Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit statt „Freude schöner Götterfunken“ gefüllt sind. Social distancing – und seit heute Kontaktverbot: Bei aller Distanz darf dennoch nicht das Gefühl des Miteinanders zu kurz kommen. Am Sonntag um 18 Uhr haben im ganzen Land Menschen an ihren Fenstern gegen die Einsamkeit gesungen. Italien hatte es schon vorgemacht – die Leute singen und musizieren aus ihren Fenstern und von ihren Balkons. Jetzt zieht Deutschland nach. In Zeiten der Beklommenheit ein Mutmacher.

 
Disruption wegen Fehlentscheidungen

 

Die werden wir öfters brauchen. Denn plötzliche Veränderungen wie die Virus-Krise nehmen an Häufigkeit, aber vor allem an Geschwindigkeit und Ausmaß enorm zu – Volatilität nennt man das. Diese Ereignisse so oder so vorherzusehen oder nur zu erahnen, wird immer weniger möglich – das ist Unsicherheit und Disruption. Gründe dafür sind die Unkenntnis von Variablen sowie deren kausale Beziehungen zueinander. Hier kommt die Komplexität (Complexity) ins Spiel – mit einer steigenden Anzahl von unterschiedlichen Verknüpfungen und Abhängigkeiten, die viele Themen in unserem Leben undurchschaubar machen. Es sind mannigfache, teilweise unbekannte Variablen mit multiplexen Wirkungen aufeinander. Eine Aktion hat Wirkungen auf sehr viele Variablen. Die VUCA-Partitur wird aber erst durch die Mehrdeutigkeit (Ambiguity) komplettiert: die Ambiguität der Faktenlage macht falsche Interpretationen und Entscheidungen wahrscheinlicher. Weil Informationen nicht mehr eindeutig interpretierbar sind.

 

Wohlstandstrotz versus Brüderlichkeit

 

Nach so viel Manager-Speak zur Entspannung zwischendurch kurz Beethoven, der sich seinen 250. Geburtstag so bestimmt nicht vorgestellt hätte. Heißt es doch in seiner Ode an die Freude: „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Statt Freude, Sanftheit und Brüderlichkeit allenthalben indes nur „Wohlstandstrotz“, den DIE ZEIT zu Recht im Angesicht der Pandemie ausmacht: https://bit.ly/3anMwHa – und den Soziologen Armin Nassehi zitiert: „Am Ende feiert hier die moderne Version des autoritären Charakters: Das Richtige wird nur getan, wenn es ausdrücklich befohlen wird.“

 

Social Distancing kills Weltoffenheit

 

Zumal die Zeiten des „social distancing“, der Ausgangssperre und Arbeitens im home office durchaus ihre guten Seiten haben. Um nicht dem Lagerkoller anheim zu fallen, kann man sich besinnen und philosophische oder soziologische Literatur durcharbeiten. Dabei gilt es, die Klassiker wiederzuentdecken. Nicht nur Beethoven in der Musik, sondern etwa Arnold Gehlen in der Soziologie. Von dem Habermas-Antagonisten stammen so treffende Wörter, die längst ihren Einzug in unseren Sprachgebrauch gemacht haben, wie „Weltoffenheit“, die in der Corona-Krise verloren gegangen ist. Oder „Reizüberflutung“, die uns, die wir zu Hause hocken und draußen idealerweise „social distancing“ praktizieren, nicht mehr befällt. Gehlen hat aber auch die zunächst kryptisch wirkende „Sollsuggestion“ beschrieben.

 

Barock erzeugt Hemmungen

 

Der Begriff gehört eigentlich in die Architektur: Räumen ist dabei quasi ein Handlungsprogramm – also die Sollsuggestion – eingeschrieben. Was heißt das? Nehmen wir einen hochstilisierten, „pompösen“ Barocksaal, der seinerzeit so ausgestaltet wurde, dass niemand unbefangen, sondern auf die manierierten Verhaltensformen der damaligen Epoche abgestimmt, den Raum betreten hat. Und heute? Gehlen sagt, der moderne Besucher geht angesichts der überbordenden Architektur gehemmt in den Barockraum und steckt unsicher seine Hände in die Hosentasche.

 

Hände aus den Hosentaschen

 

Genau dieses „Hände in die Hosentasche stecken“ – teils verunsichert, zuweilen aber geradezu bockig, eben wohlstandtrotzig – ist aktuell bei vielen Zeitgenossen zu beobachten. Sie sind eingeschüchtert, dem Fatalismus verfallen oder umgekehrt aggressiv und leugnen obendrein die bittere Realität. Dabei eröffnet uns die derzeitige Krise Chancen. Sich etwa der Sollsuggestion zu entziehen. Es ist der Zeitpunkt, die Mechanismen von VUCA zu verstehen und nicht blindlings in die Fallen von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit zu tapsen. Indem wir uns jetzt fragen: was kommt nach Covid-19?

Waren wir noch bis vor ein paar Tagen eher mit den Fragen beschäftigt, was kommt nach der Digitalisierung, ist der Kapitalismus in einer Sackgasse und wie retten wir die Welt vor der menschengemachten Erwärmung, geht es jetzt buchstäblich um unsere nackte Existenz.

 
Humanistischer Kapitalismus nach der Bewusstseins-Revolution

 

Gewiss, wir alle wünschen uns derzeit das Ende der Corona-Virus-Pandemie herbei. Allerdings wird es bis dahin noch eine Weile dauern. Wer es nicht abwarten kann, sei ein Text von Matthias Horx ans Herz gelegt. Der Zukunftsforscher macht darin mit dem Leser einen Zeitsprung in den September 2020 – und blickt auf die dann zurückliegende Corona-Krise zurück: https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/. Horx vertritt in seinem Essay so etwas wie die Position des Anti-VUCA. Ähnlich argumentiert übrigens auch Anders Indset. Im Podcast-Interview mit Gabor Steingart (Media Pioneer) plädiert der norwegische Wirtschaftsphilosoph für eine „Bewusstseins-Revolution“, einen „humanistischen Kapitalismus“ und so etwas wie „Kooperenz“ (Konkurrenz und Kooperation): https://gaborsteingart.com/?podcast=429.

 
Mutmacher gesucht und gefunden

 

Horx und Indset sind Mutmacher. Genauso wie Beethoven. Notabene: die Ode an die Freude in der Vertonung von Beethovens 9. Symphonie ist übrigens auch unsere Europa-Hymne. Also das Freudenlied der Italiener, Spanier, Franzosen, Deutschen und aller anderen 27 Nationen, vereint unter der blauen Flagge mit ihren 12 goldenen Sternen. Es ist ein Lied des Mutes, den wir alle haben. Wenn wir die Hände aus den Hosentaschen nehmen.


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