Falsches Leben im richtigen

Abgesehen davon, dass in der ersten Januarwoche das durch die Weihnachtseinkäufe bereits leicht geschwächte Konto durch die Abbuchung von Mitgliedsbeiträgen und Versicherungsprämien zusätzlich stark belastet wird, liegt mir die Zeit vom 2. bis 6. Januar besonders am Herzen. Aufgeladen mit guten Vorsätzen treffe ich mich traditionell mit Freunden und Geschäftspartnern, die sich ebenfalls vorgenommen haben, im neuen Jahr alles anders zu machen und mit ihnen über Gott und die Welt zu reden. Buchstäblich.

Gestern zum Beispiel saß ich mit dem Geschäftsführer eines etwas größeren Dienstleistungsunternehmens in einem Café bei Cortado und Cola zusammen – wir sprachen über Purpose („Bullshit-Bingo-Topscorer“), Resilienz („überbewertet“) und Home-Office auf Bali („was für Non-Performer“). Im daily business löst der Top-Manager die akuten Probleme seiner Kunden hocheffizient. Privat und zwischendurch liest er am liebsten Belletristik – derzeit „die Mitternachtsbibliothek“ des britischen Autors Matt Haig.

Der Roman handelt von Nora Seed, die aus lauter Verzweiflung beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. Sie findet sich im Jenseits wieder, an einem Ort, an dem die Uhrzeiger immer auf Mitternacht zeigen. Dort eröffnet sich der Protagonistin plötzlich die Möglichkeit, herauszufinden, was passiert wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte. Jedes Buch in der Mitternachtsbibliothek bringt sie in ein anderes Leben, in eine andere Welt, in der sie ihren Weg finden muss.

Nora Seed geht durch die riesige Bibliothek mit all den Leben, die sie hätte führen können, und fragt sich, ob man in einem anderen Leben überhaupt glücklich sein kann, wenn man weiß, dass es nicht das eigene ist. Die Handlung des Buches erinnert mich an die Sentenz des Philosophen Theodor W. Adorno, wonach es „kein richtiges Leben im falschen“ gibt. Die Wahrheit des geflügelten Satzes ist: Lassen Sie sich nicht das falsche Leben als das richtige verkaufen.

Übertragen auf den Geschäftsalltag würde ich aus Nora Seeds Erfahrung und Adornos Erkenntnis folgern: Nicht verbiegen lassen! Authentisch bleiben! Und nimm dein Schicksal selbst in die Hand! Das sind also meine guten Vorsätze für dieses Jahr. Das OK dafür habe ich vom Topmanager beim Kaffeehausgespräch bekommen.

Zurück zu Hause, mit dem frischen Schwung, nahm ich die neueste Ausgabe des Harvard Business Manager (HBM) in die Hand – und las das Interview mit John Strelecky. Zur Erinnerung: In seinem Buch „Das Café am Rande der Welt“ erzählt der Bestsellerautor die fiktive Geschichte von John, einem vom Alltag gestressten Werbemanager, der zufällig in das „Café der Fragen“ gelangt. Dieses liegt weit weg – am Rande der Welt. Auf der Speisekarte des Cafés entdeckt John die Fragen: Warum bist du hier? Führst du ein erfülltes Leben?

HBM-Redakteur Ingmar Höhmann sprach mit dem ehemaligen Unternehmensberater über Leidenschaft in Unternehmen, Mitarbeitermotivation und Erfolgsstrategien und über die Frage, ob hinter der Mission eines Unternehmens wirklich Leidenschaft steckt – oder alles nur leere Phrasen sind? Streleckys Ratschlag: Wer auf der Suche nach einer neuen Strategie ist, sollte sich umschauen und ohne Scham andere Unternehmen kopieren.

Das ist dann so etwas wie das falsche Leben im richtigen?


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