Jaywalking gegen die Polykrise

Von Susanne Mathony* und Harald Ehren

Darüber reden – oder einfach mal den Mund halten? Also keine Pressemitteilung, kein Post in den Sozialen Medien, kein „sich produzieren“? Weil uns die Krise, die miese Konjunktur – kurz: die Polykrise – Zurückhaltung auferlegen sollte? Viele deutsche Unternehmen und C-Level-Entscheider agieren gerade so. Nämlich gar nicht. „Cocooning“ in der Kommunikation ist jedoch nicht zielführend.

Gewiss geht es im Jahr 2023 um den Stand der Gasspeicher und das Überleben der deutschen Industrie. Aber professionelle Kommunikation hat weiter seine Berechtigung.
Mehr als das: Sie wird essenzieller Vertauensanker für verunsicherte Stake- und Shareholder. Klar ist:  Agile Transformation ist ebenso wie Disruption und Change auch für Kommunikatoren nicht länger lediglich ein Lehrbuch-Buzzword. Nach drei Jahren Pandemie ist sie Lebensalltag. Deshalb lohnt es sich, genau jetzt an der Jahres- und Zeitenwende zu fragen:

  • Was kommt in Kommunikation und Marketing?
  • Was bleibt?
  • Was hat ausgedient?

Die Klammer für alle drei Fragen:Die eigene Marke gezielt zu differenzieren und die Sichtbarkeit weiter zu stärken! In der Vielfalt der Kanäle und den Lärmblasen – schon im Alten Testament ein starkes Wort – ist es noch herausfordernder, mit eigenen Botschaften durchzudringen. Auf Basis von je mehr als zwei Jahrzehnten Beratungserfahrung wagen Susanne Mathony, Gründerin & CEO der Positionierungsberatung MBS / Mathony Brand Strategists und ich einen Ausblick.

Hier sind unsere fünf Thesen für das Kommunikationsjahr 2023.

1. Ohne Strategie ist alles nichts

Jedes zweite deutsche Unternehmen fährt bei der Kommunikation auf Sicht oder schlimmer im Nebel: 54 % der PR-Verantwortlichen stehen keine Ressourcen zur Verfügung, um eine Strategie zur erstellen, so der Trendmonitor. 35 % sagen gar: Wir brauchen keine Kommunikationsstrategie. Wenn es zutrifft, dass aktuell nur 6 % der Unternehmen strategische Kommunikationsmaßnahmen erarbeiten, wird uns angst und bange.

Strategie x Kongruenz x Persönlichkeit x Konzept x Botschaft – um diese Formel kommt niemand herum, der Marken und Menschen erfolgreich positionieren möchte. Ist das aufwendig? Ja! Aber erst so entsteht eine nachhaltige Positionierung. Dürften wir nur einen Joker in der Polykrise ziehen, dann ist es, die Kommunikationsstrategie holistisch auf den Prüfstand zu stellen, wetterfest zu machen und in den Köpfen aller Stakeholder zu verankern.

Egal ob man das Wort des Jahres 2022 – Zeitenwende – mag oder nicht: Sie verlangt einen neuen Kommunikationsstil – nämlich eine transformative Kommunikation. Sie gestaltet unternehmerisch, handfest und ergreift die Initiative, indem sie den Status Quo infrage stellt.

2. Kraftvolle Narrative reduzieren Komplexität

Wie brachte es Wolf Lotter schon im Pandemiesommer 2020 auf den Punkt?
Schlechte Zeiten sind gute Zeiten für das Scharfstellen auf das, was zählt. Räumen wir auf – und sehen wir weiter.” Wer in diesen Krisenzeiten „scharfstellen“ will, begreift die beschriebene transformative Kommunikation als gestaltend. Dazu braucht es ein zuvor analysiertes und sauber definiertes, strategisches Narrativ.

Noch unterschätzen (zu) Viele: Ein Narrativ ist etwas Großes. Es ist sinn- und gemeinschaftsstiftend. Dieses generative Muster ist eine Kommunikationsform, die sich übertragen und kontinuierlich weiterentwickeln lässt. Ihr großer Vorteil für Unternehmen wie für C-Level-Entscheider gerade in Krisen- und Umbruchzeiten: Diese Erzählmuster reduzieren die Komplexität der ungezählten Echokammern und zunehmender Entropie.

In der aktuellen Kakophonie ist es erfolgskritisch, die Marke, ihre Botschaft und vor allem ihre Protagonisten klar zu positionieren.

Genau das leistet eine strategiegetriebene Kommunikation. Gerade bei der Platzierung von Marken und Menschen in einem wettbewerbsintensiven, wirtschaftlich chaotischen Umfeld, braucht es intelligente Botschaften und scharfsinnige Features. So bleiben sie im Gedächtnis.

3. PR bleibt wichtig – aber anders

Kürzlich provozierte Branchenkenner Thomas Knüwer:Selbst seriöse Medienmarken ergehen sich in clickbaitigen Hysterie-Schlagzeilen. Eine nüchterne Erklärung von Themen findet nur noch in Ausnahmefällen statt“.  Seine Analyse stimmt. Der Kampf im Markt der medialen Aufmerksamkeit durch den Rezipienten ist härter denn je. Earned Media zu erzielen, wird aufgrund schrumpfender Redaktionen immer schwieriger. Das auch, weil der Grad an Media Literacy der Konsumenten kaum noch zu kalkulieren ist und teilweise abnimmt. Übrigens nicht allein bei der jüngeren Generation.

Dennoch bauen wir auf das Fortbestehen professioneller PR – auch oder gerade wegen der angespannten Marketingbudgets. Mit Leitmedien lassen sich belastbare Beziehungen eins zu eins, persönlich und in Echtzeit aufbauen. Im Sichtbarkeitswettbewerb können nicht nur PR-Teams, sondern auch Top-Entscheider selbst Erfolge erzielen. Tools wie Business Storytelling helfen dabei.

Wert und Wertschätzung für strategisch durchdachte PR-Kampagnen, die auf Kreativität und messerscharfen Messages fußen, werden steigen.

4. Empathie und Emotionen verbünden sich mit Analytics

Das Jahr 2023 macht das ‚power couple á la Amal & George Clooney des Marketings noch wirkmächtiger: Die Symbiose aus Analytics und Emotionen. Die Krise der letzten drei Jahre hat gezeigt: Kopf und Herz oder Instinkt und Daten strikt zu trennen, ist überkommen. Es zählt beides!

Insofern erwarten wir deutlich mehr Marketing-Kampagnen, die reflektieren: Konsumenten sind mehr als die Summe ihrer Datenpunkte. Sie sind Menschen mit Emotionen. Und diese emotionalen Verbindungen sind starke Treiber, um Affinität zu Marken zu schaffen und zum Handeln oder Kaufen anzuregen.

Daher bedient eine transformative Kommunikation im Jahr 2023 die drei „E’s“: Sie ist emotionsadäquat, empathisch und ernstnehmend. Gestandene PR-Profis beherrschen den Emotionsraum ihrer spezifischen Zielgruppen – emotionsadäquat. Wie das funktioniert? Respektvoll und Diversität anerkennend – also empathisch. Dieser Dreiklang rundet einen Kommunikationsstil ab, der akzeptiert, toleriert und wertschätzt. Nicht einfach in der Polykrise, aber machbar.

5. Mit Jaywalking Konventionen in der Kommunikation brechen

„Jaywalking“ – Im Amerikanischen bezeichnet das Menschen, die bei Rot über die Ampel gehen. Zunehmend wird dieser Begriff in den Sozialen Medien für die gezielte Regelübertretungen genutzt.

Den Jaywalker kennzeichnet eine klare Haltung. Diese ist mit Neugier, Offenheit und fast kindlicher Freude verbunden, den eigenen Weg zu entdecken und Neues auszuprobieren. So entwickelt der Jaywalker sich selbst und die Organisation, die es zu repräsentieren gilt, weiter.

2023 wird das Jahr der Jaywalker. Denn wenn nichts mehr linear verläuft, muss man sich auch in der Kommunikation nicht mehr an die lineare Verkettung von Ursache und Wirkung halten. Kommunikatioren von Unternehmen, vor allem aber ihre Lenker, sollten hier Mut beweisen.

„Handeln! Handeln! Das ist es, wozu wir da sind!“ Johann Gottlieb Fichte beschwor das schon 1794 in seiner Vorlesung zu den Rousseau‘schen Behauptungen über den Einfluss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit. Oliver Wyman beschreibt das eher pragmatisch als „2023: A Time To Experiment“.

Gewiss führt diese gezielte Regelübertretung zu Irritationen und Ablehnung. Jaywalking öffnet aber die Tür zu neuen Kommuikationsräumen, in denen wieder kontrovers diskutiert statt nur abgenickt wird. Endlich!

Fazit: Kommunikation in Zeiten von BANI statt VUCA

Unternehmen und Entscheider brauchen im neuen Jahr starke Lotsen, die sie durch unsichere Zeiten manövrieren. Die Klippen sind schwerer zu erkennen. Die zu umschiffenden Sandbänke haben sich verlagert.

Folgt man dem Futuristen Jamais Caisco, hilft das VUCA-Framework nicht länger. Denn wir leben heute in „Situationen, in denen die Bedingungen nicht nur instabil, sondern chaotisch sind. In denen die Ergebnisse nicht nur schwer vorhersehbar, sondern völlig unvorhersehbar sind.
Oder (…) Situationen, in denen das, was geschieht, nicht einfach nur mehrdeutig, sondern unverständlich ist
.“ Deshalb schlägt Caisco BANI vor. BANI steht für 𝗕𝗿𝗶𝘁𝘁𝗹𝗲, 𝗔𝗻𝘅𝗶𝗼𝘂𝘀, 𝗡𝗼𝗻𝗹𝗶𝗻𝗲𝗮𝗿 & 𝗜𝗻𝗰𝗼𝗺𝗽𝗿𝗲𝗵𝗲𝗻𝘀𝗶𝗯𝗹𝗲.

2023 sind für Kommunikatoren die letzten beiden Aspekte entscheidend: Nonlinear und Incomprehensible.

𝗡𝗼𝗻𝗹𝗶𝗻𝗲𝗮𝗿 – In einer nichtlinearen Welt sind Ursache und Wirkung unverbunden und unproportional. Selbst winzige Entscheidungen können massive Folgen haben. Ausmaß, Umfang und Geschwindigkeit rauben zum Teil den Atem. Wessen Kommunikationsstrategien dann nicht mega-agil sind, hat verloren.

𝗜𝗻𝗰𝗼𝗺𝗽𝗿𝗲𝗵𝗲𝗻𝘀𝗶𝗯𝗹𝗲 – Vieles ergibt auf den ersten Blick keinen Sinn mehr. Wir sind Zeugen von Ereignissen und Entscheidungen, die unlogisch erscheinen. Hier helfen die beschriebenen strategischen Narrative zur Einordnung und Komplexitätsreduktion.

Wie formuliert es unser #MBS-Partnerkollege und erfahrener Kommunikator (Beiersdorf, Brunswick, Unicepta) Claas Sandrock treffend:  „Kommunikation ist nicht der Entertainment-Teil von Strategie, sondern gibt Menschen gerade in herausfordernden Zeiten gute Gründe, neu zu handeln.“

Genau das brauchen wir jetzt. Also handeln Sie!

*Susanne Mathony ist Gründerin & CEO der Positionierungsberatung #MBS Mathony Brand Strategists


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Kommentare

3 Antworten zu „Jaywalking gegen die Polykrise

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