Die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, schreibt Modedesigner Wolfgang Joop bei SPIEGEL online, waren geprägt von der Sucht nach Schönheit und Freiheit. In seinem berührenden Nachruf auf Tatjana Patitz, das „Supermodel“ der 90er Jahre, spannt Joop einen Bogen von dieser Vergangenheit in unsere Gegenwart: Nicht umsonst erschienen Supermodels 1990 im Musikvideo zu George Michaels Song „Freedom“ als Illustration dieses Jahrzehnts. Für Joop war es eine Zeit ohne Verbote und ohne Reflexion. Heute sei beides ein fester Bestandteil von allem.
Für mich war Tatjana Patitz nicht nur mein Jahrgang, sondern von allen Supermodels war sie die Schönste. So selbstbewusst, so geheimnisvoll. Und sie war so, wie Joop sie beschreibt: Tatjana und die anderen Models verkörperten den Geist der neunziger Jahre, wo man einfach alles wagte, noch alles auf eine Karte setzte.
Und heute? Im Hier und Jetzt? Dominiert die Technik. Spricht niemand mehr über Supermodel, sondern über Supercomputer und über Sam Altman, den 37-jährigen Gründer und Chef der Firma Open AI, die „Chat GPT“ kreiert hat und damit Google in den Schatten stellen will. Der Hype ist diese Woche darin gegipfelt, dass wegen zu vieler Anfragen an Chat GPT die AI nun erst einmal nichts mehr annimmt.
Eigentlich wollte ich diese Kolumne mit Hilfe der künstlichen Intelligenz von Chat GPT verfassen. Das hat wohl nicht geklappt. Enttäuscht von den frühen Schließungszeiten der KI, habe ich mich stattdessen an die MIT Technology Review gewandt, die ich von Zeit zu Zeit gerne konsultiere. Aktuell hat sie ein Ranking der zehn bahnbrechenden Technologien in diesem Jahr veröffentlicht – in den Bereichen künstliche Intelligenz, Biotechnologie, Klimawandel, Computertechnik, Cybersicherheit, Weltraumforschung und mehr.
Zu den Höhepunkten des Jahres gehören laut MIT zum Beispiel KIs, die auf der Grundlage einiger weniger Texteingaben beeindruckende Kunstwerke erstellen. Oder ein Chipdesign namens RISC-V, das alles verändert, weil es für jeden einfacher wird, einen Chip zu entwerfen. Und schließlich die Analyse alter DNA. Mit Hilfe der Genomsequenzierung können wir jetzt sehr alte Stränge der menschlichen DNA lesen. Die Untersuchung der Spuren von Menschen, die vor langer Zeit gelebt haben, verrät viel darüber, wer wir sind und warum die moderne Welt so aussieht, wie sie aussieht.
Laut Joop ist unsere moderne Welt geprägt durch Verbote, was dazu führt, dass sich niemand mehr etwas traut und nur wenige in neue Rollen schlüpfen. Sie bleiben sie selbst, auch wenn sie sich anders kleiden.
An dieser Stelle möchte ich dem Meister der Mode widersprechen – und das am Beispiel der Krawatte verdeutlichen. Der Niedergang der Herrenkrawatte, der in den 90er Jahren mit der „Befreiungsbewegung“ des „Casual Friday“ – nämlich den Hemdkragen zu öffnen – seinen Anfang nahm, scheint gestoppt zu sein. Die Krawatte, schreibt Thomas Fromm in der Süddeutschen, erlebe sogar eine Renaissance.
Wer heute eine Krawatte trägt, will etwas sagen. Und die, die keine tragen, auch. Hier also mein Vorschlag für das elfte bahnbrechende Thema für 2023, über das die MIT-Experten derzeit ihre Leser abstimmen lassen: die Rückkehr des Krawattenmannes des Jahres.
Vielleicht tun sie es mir einfach nach. Ich schlüpfe nämlich in eine neue Rolle, setze alles auf eine Karte und lasse mich von der Sucht nach Schönheit und Freiheit der 90er Jahren inspirieren – indem ich mir heute, am Freitag, zum George-Michael-Song „Freedom“ eine Krawatte umbinde. In Gedenken an Tatjana Patitz wird es eine schwarze sein. Ich habe noch ein Exemplar. Von Joop.
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