Realpolitik in real life

Was ist Ihr Lieblingswort? Eine Phrase, die Sie gerne in Gesprächen zücken? Ein Begriff, der schnell mal aus Ihrer Feder fließt? Bei mir sind es gleich drei Wörter, zu denen ich freilich ein ambivalentes Verhältnis pflege. Wörter, vor denen ich enormen Respekt hege. Wie das in einer „guten Beziehung“ sein sollte. Die drei sind Zeitenwende, Realpolitik und Idealismus. Diese „Heavyweights“ erhalten aktuell Auftrieb. Weil sie unsere derzeitigen Krisen und Kriege illustrieren.

Infolgedessen changiert die momentane Diskussion in Politik und Medien zwischen Realpolitik und Idealismus. So etwa am vergangenen Sonntag bei Anne Will, als es um die Frage ging, ob man noch Geschäfte mit den Chinesen machen darf. Zuvor berief sich Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) in einem Tagesspiegel-Gastbeitrag auf den Idealisten Ludwig Rochau. Dieser hatte 1853 einen neuen Begriff in das politische Denken Deutschlands eingeführt, in seinem damaligen Bestseller „Grundsätze der Realpolitik“. Was Buschmann sagen will: die sind heute auch wieder voll gefragt. Und der Deutschlandfunk befasste sich Anfang der Woche unter der Headline „wenn Utopie auf Realpolitik trifft“ mit dem zögerlichen Agieren der Bundesregierung gegenüber dem Iran, der nicht zu der von Außenministerin Baerbock proklamierten „feministischen Außenpolitik“ passe.

Der Zuschauer und Leser bleibt bisweilen orientierungslos zurück. Weil es mediale Mitteilungen von der Metaebene sind. Auch ein Begriff, der gleichzeitig liebens- und verachtenswert ist, indem er zwar den neutralen Zustand einer Betrachtung aus der Vogelperspektive beschreibt – aber abseits unseres wirklichen Lebens handelt, dem „real life“. Dieses ist immer noch wirkmächtiger als eine theoretische Idee, die besagt, eben nicht Werten oder abstrakten Programmen zu folgen, sondern nüchtern zu fragen, was möglich ist und was nicht.

Bei der Realpolitik stand und steht die Erreichung eines Zieles und nicht eine Idee im Vordergrund. Nur: wo bleibt da der notwendige, hoffnungserhaltende Idealismus? Wir befinden uns an einer entscheidenden Zeitenwende. Und erneut behandeln die Metaebenen-Erklärer in den Feuilletons Idealismus und Realismus als Antipoden. Ein Reflex, den es zu überdenken gilt.

Diese andere Sichtweise ist momentan konkret in der fünften Staffel der Netflix-Serie „The Crown“ zu betrachten. Wie in den Staffeln zuvor werden historische Ereignisse in die Erzählung eingeknüpft. Ein spannender Erzählstrang ist zum Beispiel dem Einsatz der Queen für ein ordentliches Begräbnis der von Bolschewisten ermordeten russischen Zarenfamilie gewidmet. Zur Erinnerung: Elizabeth II. setzte sich dafür persönlich beim russischen Präsidenten Boris Jelzin ein und machte in diesem Sinne idealistische Realpolitik. Damals genau das Richtige für eine Zeitenwende. Heute auch.


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