Voll der Fron

Neid ist jetzt nicht unbedingt eine Haltung, die mich charakterisieren würde. Aber ab und zu bricht er sich bei mir schon mal Bahn. Immer an Fronleichnam. Das ist ein wichtiges Fest der katholischen Kirche, mit dem die bleibende Gegenwart Jesu im Sakrament der Eucharistie gefeiert wird.

Als jemand, der seine Kindheit in Nordrhein-Westfalen und viel Lebenszeit in Hessen und Bayern verbracht hat, war und ist aktuell das Leben im Fronleichnam-freien, protestantischen Hamburg, davor anglikanischen London und später gottlosen Berlin immer eine Qual an diesem ganz besonderen Tag. Fronleichnam findet dort nicht statt.

Die Faszination und den Bann des Sollemnitas Sanctissimi Corporis et Sanguinis Christi, also Hochfestes des allerheiligsten Leibes und Blutes Christi‘ kann niemand nachvollziehen, der sein Seelenheil mit einem Schal auf dem evangelischen Kirchentag findet. Sorry für das Dissing. Aber mir geht es um Menschlichkeit als Mysterium, nicht These einer kirchlichen Diskussionsgruppe.

Oder mal anders betrachtet: Es gibt Tage, an denen man sich wünscht, man könnte sich einfach in eine katholische Prozession einreihen und die Welt mit den Augen eines Fronleichnam-Feiernden sehen. Ein Fest, das in seiner tiefen Symbolik und rituellen Schönheit die protestantische Nüchternheit in den Schatten stellt.

Nun, bevor Sie mich für einen religiösen Fanatiker halten, lassen Sie mich erklären. Es geht mir nicht um dogmatische Streitigkeiten oder theologische Haarspaltereien. Nein, es geht um Menschlichkeit. Um das Mysterium der Menschlichkeit, um genau zu sein. Und was hat das mit Fronleichnam zu tun, fragen Sie sich? Nun, lassen Sie uns einen kleinen Ausflug in die Welt der Fotografie machen.

Edward Steichen, einer der bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts, hat in seiner Arbeit eine Form der Menschlichkeit eingefangen, die ich als „widerständige Menschlichkeit“ bezeichnen würde. Seine Fotografien, insbesondere die in seiner Ausstellung „The Bitter Years“, zeigen Menschen inmitten der Weltwirtschaftskrise, die trotz aller Widrigkeiten Würde, Mitgefühl und Solidarität bewahren. Sie widerstehen der Logik des Leids und der Ausbeutung, indem sie ihre Menschlichkeit behaupten.

Und genau hier sehe ich eine Parallele zu Fronleichnam. In der Eucharistie, dem zentralen Ritual dieses Festes, wird die Menschlichkeit Jesu gefeiert, seine Leibwerdung, sein Mit-Leiden und seine Solidarität mit den Menschen. Es ist eine Feier der widerständigen Menschlichkeit, die sich gegen die Logik des Todes und der Zerstörung stellt.

Jetzt fragen Sie sich vielleicht, wie das alles zusammenpasst. Wie kann man von Fronleichnam zu Edward Steichen und von dort zur widerständigen Menschlichkeit gelangen? Nun, ich gebe zu, es ist ein etwas ungewöhnlicher Gedankensprung. Aber ist das nicht gerade das Schöne an der Menschlichkeit, dass wir in der Lage sind, solche kreativen Verbindungen herzustellen? Dass wir in der Lage sind, Humor und Tiefe, Ernst und Leichtigkeit zu verbinden?

So wie Edward Steichen in seinen Fotografien die widerständige Menschlichkeit eingefangen hat, so feiern wir an Fronleichnam die widerständige Menschlichkeit Jesu. Und so wie Steichen uns durch seine Kunst dazu auffordert, unsere eigene Menschlichkeit zu behaupten, so fordert uns Fronleichnam dazu auf, unsere eigene widerständige Menschlichkeit zu leben.

Und so sitze ich hier im Protestantenland, blicke auf die Fotos von Edward Steichen und denke an Fronleichnam. Und ich kann nicht umhin, ein wenig neidisch zu sein. Neidisch auf die katholischen Gläubigen, die an diesem Tag ihre widerständige Menschlichkeit feiern. Aber auch dankbar. Dankbar für die Möglichkeit, durch die Augen eines Fotografen und die Rituale einer Konfession eine neue Perspektive auf die Menschlichkeit zu gewinnen.

Und so, liebe Leserinnen und Leser, lade ich Sie ein, sich mit mir auf diese Reise der Entdeckung zu begeben. Lassen Sie uns die widerständige Menschlichkeit feiern, in all ihren Facetten, in all ihrer Schönheit und in all ihrer Komplexität. Lassen Sie uns lachen und weinen, feiern und trauern, widerstehen und mitfühlen. Denn das ist es, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja nächstes Jahr an Fronleichnam in einer katholischen Prozession. Ich werde derjenige sein, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht und einer Kamera in der Hand durch die Straßen zieht, auf der Suche nach Momenten der widerständigen Menschlichkeit. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute und vergessen Sie nicht: Menschlichkeit ist kein Zustand, sie ist eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die wir jeden Tag aufs Neue treffen müssen. Also, entscheiden Sie weise.


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